Carla Chlebarov

Zwischen nackter Verzweiflung und purer Euphorie

Im Leben der Künstlerin Carla Chlebarov scheinen sich immer wieder Meilensteineauf frühere zu beziehen und Klammern geradezu logisch zu schließen. Einst in den wilden Achtzigern an der Akademie der bildenden Künste in München studierend verdiente sie sich den Lebensunterhalt unter anderem in den Bavaria Filmstudios und stürzte sich selbst in Video-Filmproduktionen. Kein Wunder also, dass sich beim Betrachten ihrer Bilder ganze Filme abspielen können. Die Aktionsmalerei, die ihr Professor Hermann Nitsch im Jahrzehnt vor dem Millennium vermittelte, ist noch heute eine Ausdrucksform, die bei Carla Chlebarov gefragt ist, wenn im künstlerischen Arbeitsprozess ganz neue Wege zwingend sind. Die intensiven Erfahrungen in Mexiko und in Florida verliehen ihren Arbeiten mehr Tiefe. Die sonnige Durchflutung oder die Neon-Realität wirken bis heute mit viel Mut zur überbordenden Farbe in vielen ihrer Werke nach.

Selbst, dass Carla Chlebarov, die eigentlich aus Norderney stammt und wohl auch deshalb jedem Sturmgebraus standhalten kann, inzwischen in Salem, ganz in der Nähe des schwäbischen Meers, ihre Heimat gefunden hat, passt da gut ins Bild. Nun wird auch der Katalog, den Sie in Händen halten, zu einer weit geöffneten Klammer eines bunten Künstlerinnenlebens, der nicht wie so oft nur eine Serie von Arbeiten eines bestimmten Zeitrahmens oder ein aktuelles Projekt zugrunde liegt. Vielmehr nimmt uns Carla Chlebarov auf eine Zeitreise durch ihr Schaffen mit, und oftmals erschließen sich ihre späteren und aktuellen Arbeiten des abstrakten Expressionismus ganz neu, wenn die spannende Findungsphase und brodelnde Ursuppe der Frühwerke im Hinterkopf mitschwingen darf.

Genauso wichtig ist freilich auch, das Wissen um einen prägenden Wissensvermittler und Wegweiser wie Helmut Sturm, der die junge, in München studierende Carla zwischen der aktionistischen Aufgewühltheit der Einflüsse von Gruppe Cobra bis Kollektiv Herzogstraße hin zum Diplom der Meisterschülerin im regen Austausch stets an elementare Grundlagen erinnerte: Selbst der ihr so nahe Tachismus kommt von Können und weniger ist nicht selten mehr. Diese einst im freien Geist angelegten formalen Leitplanken nach teils radikalem Saus und Braus auf gewaltigen Leinwänden oder Farb-Exzessen in einer Hyper-Flora- Welt werden nun wieder deutlich sichtbarer. Bisweilen blitzt figurativ Gestisches durch das Dickicht, und gerade auch beim gleichermaßen intuitiv wie bewusst gesetzten Farbauftrag wird die Schule der venezianischen Malerei des Cinquecento bis zur Renaissance als Einfluss offengelegt.

Den intellektuellen Ansatz will Carla Chlebarov für den Entstehungsprozess einer Arbeit nicht zu hoch hängen. „Es denkt in mir“, relativiert die Künstlerin diese so fruchtbare Symbiose aus Intuition und eigener, über Jahrzehnte gewachsener Expertise. Oftmals müssen mehrere Stadien der nackten Verzweiflung und des deprimierenden Stillstands wie auch der puren Euphorie und Lust durchlebt werden, bis sich eine Arbeit ihrem idealen Selbst annähert und von innen strahlt.

Bisweilen müssen allerdings die komplexen Farbschichtungen und -verläufe eines Bildes radikal ausgelöscht und noch einmal mit einem anderen Geist gefüllt werden. Dies häufig mehrmals, denn das künstlerische Feld will intensiv beackert sein, damit die ausgebrachte Saat in voller Blüte aufgehen kann. Die Perspektivenwechsel wirken hier ebenso wie die Zeit, die der Reife eines Bilds zugestanden wird. Entscheidend ist, dass nichts wiederholbar oder gar rückgängig zu machen ist. Die Künstlerin wird zum Werkzeug ihrer unbändigen Kreativität und steht bisweilen staunend vor den eigenen Arbeiten, die mit ihr als willfährig getriebenem Medium wie von selbst über den „Point of No Return“ in einem fulminanten Finish münden.

Nicht immer ist hierbei entscheidend, dass die Metaebene über dem oftmals türkisfarbenen Grund als substantielle Tiefenschicht weiterhin tragendes Fundament ist. In Arbeiten wie ihrem monolithischen Werk „Landscape“ ist das, was in vielen Bildern nur die erste Schicht einer Grundierung wäre, bereits nahe am fertigen Werk, das durch seine Minimalismen atmen darf. Nur wenige Pinselstriche oder Wischungen und schon scheinen sich die Kontinentalplatten einer fernen Welt wieder langsam anzunähern und ineinander zu verzahnen. In der „Freedom“-Reihe nimmt sie sich die Freiheit, die ursprüngliche und symbolische Kraft der Höhlenmalerei in ihrer ganzen archaischen Zuspitzung einfließen zu lassen.

Immer wieder lassen sich im Oeuvre allerdings Arbeiten finden, bei denen jede weitere Farbschicht oder Lasur wie ein Filter wirkt, der die Spuren im Geflecht und die Vielzahl an figurativen Entdeckungen miteinander verknüpft. Es wird zudem gespachtelt und mit sattem Pinselauftrag gearbeitet, um eine noch plastischere Wirkung zu erzeugen. Carla Chlebarovs Bilder müssen Charakter haben, ihren eigenen Kopf. Selbst in vermeintlichen Serien liegt die Konsequenz im konzeptionellen Bruch. Allein durch die Vorliebe für bestimmte Farben lassen sich künstlerische Episoden greifen. Kraftvoll und dynamisch sind ihre Bilder sehr häufig, in jüngerer Zeit vermischen sich wie in „Siebter Himmel“ oder „Playworld“ auch wieder neonfarbene Leuchtblubber und -felder formenhaft mit reichlich Pigment- Power zu einer sehr individuellen Pop- Modernität.

Aber da ist auch die Drucktechnik, die für die Künstlerin immer ein wichtiges Ausdrucksmittel war und wieder ist. Monotypien auf schwerem Papier entstehen seit geraumer Zeit auf der eigenen Maschine im Atelier in Friedrichshafen. Anders als bei den oftmals großformatigen Bildern sind hier zu Beginn des kreativen Prozesses Ideen gesetzt, die auf der Kupferplatte ihr ganz eigenes Leben entfalten dürfen. Dies gilt für figurative Komponenten wie für kalligraphisch anmutende Brechungen, deren Wirkung durch einen satten Farbauftrag in kühlem Blau oder dunkelrote Akzente noch verstärkt wird.

Bereits in den Jahren ab 1990 hatte Carla Chlebarov in Florida mit Monotypien den Druck für sich entdeckt und die Möglichkeiten unter anderem auf Plexiglas ausgelotet. In dieser Zeit bekam ihr künstlerischer Output während der gemeinsamen Kreativphase mit Gundula Thormaehlen Friedmann und dem Skulpteur Joseph Meerbott unterschiedlichste Facetten. Neben den Drucken waren das 24 Teller aus der eigenen Töpferei – die Motive stammten von noch vorhandenen Eitempera-Arbeiten auf Nessel –, Wasserfarben-Bilder mit Szenen aus „Joes Backyard“ oder sehr komplexen Collagen, die unter der Verwendung von Farben, Kreide und Schnipseln aus US-Zeitungen entstanden und so auch zu Zeitdokumenten wurden. Die schwüle Hitze von Lake Worth Beach nahe Miami schien bei mehreren Besuchen wie ein Katalysator zu wirken.

Einen ganz ähnlichen Effekt hatte 1992 auch die Zeit in der pulsierenden mexikanischen Kulturstadt San Miguel de Allende auf Carla Chlebarov. Für Kurse in Radierung und Malerei eingeschrieben, vertiefte sie sich im angemieteten Atelier über fünf Wochen hinweg in Arbeiten auf Papier. Kreide, Acrylfarben, Mischtechniken – die Experimentierfreude war sehr groß, das Licht und die flirrende Stimmung im fernen Guanajuato ganz offensichtlich sehr inspirierend. Die Künstlerin, die sich immer wieder auch in Aktionen und Performances Luft macht, war hier bereits sehr nahe an Ausdruckswelten, die sie noch heute durchmisst. Carla Chlebarov ist und bleibt eine freie Radikale, die das Regelwerk der Malerei sowie der Zeichnungen beherrscht und sich darin auch wohlfühlen kann. Sie ist aber jederzeit bereit, es konsequent wie spielerisch zu weiten und sich souverän auch künftig über gängige Grenzen hinwegzusetzen.


Udo Eberl 2022, anläßlich des Katalogs "1990-2022 UNPUBLISHED"