Carla Chlebarov malt nicht erst seit gestern. Seit den 80er Jahren widmet sie sich ausschließlich und mit einer Unbedingtheit ihrer Kunst, dass man nur den Hut ziehen kann.
Carla Chlebarov ist auch nicht von gestern. Nein, sie lebt – im Hier und Jetzt. Ihre Bilder legen davon Zeugnis ab, indem sie sich mitverändern.
Ich hatte das große Glück, der Künstlerin 2012 zu begegnen und ihre Arbeit seither kennen und schätzen zu lernen. Für mich ist ihre Kunst untrennbar mit ihrem Wesen und ihrer Geschichte
verbunden. Diese Wahrnehmung hat sich nochmals verstärkt, als wir während den Vorbereitungen für die Ausstellung „Eintauchen in die Unterwelt der C.C.“ in den Ausstellungsräumen des L wie
Materie, Räume für zeitgenössische Kunst in Salem, gemeinsam die unendlich vielen Mappen der vergangenen Jahrzehnte durchstöberten. Den Schwerpunkt der Ausstellung bildeten die Papierarbeiten,
die oft im Schatten der unglaublich farbintensiven expressiven Malerei stehen. Sie geben Aufschluss darüber, wie die Künstlerin ihre unmittelbaren Eindrücke durch die Spontanität einer Skizze
erfasst und wiedergibt.
In den Mappen tauchten immer wieder Zeichnungen auf, die Carla Chlebarov als noch junge Frau im Alter von 18 und 19 Jahren erstellte. Die Anfänge zeugen von einem großen Interesse an der
Wiedergabe des Menschen. Dieses Interesse hat sich bis heute gehalten. Ihr OEuvre beinhaltet neben dem abstrakten Expressionismus und dem Action Painting eine schier unendliche Anzahl an
Aktzeichnungen und Portraits. Diese zwei konträren Welten, die Abstraktion und das Figurative, die auf den ersten Blick widersprüchlich wirken, zeigen auf der einen Seite eine Offenheit für den
Gegensatz und zum anderen eine Fokussierung auf, die die Künstlerin in beiden Formen abrufen kann und sich darin auslebt. Die feinen Linien, mit der Carla Haltungen und Körpersprache ihrer
Modelle wiedergibt, spiegeln sich ebenfalls in Form von Ritzungen oder mit Kreide gezogenen pulsierenden Lebenslinien in den abstrakten Gemälden.
Verlieren, im positiven Sinne, kann man sich als Betrachter*in in dem Moment, wenn man einer Arbeit von Carla Chlebarov gegenübersteht. Und dabei spielt es keine Rolle ob das Gemälde 4 m lang
oder nur 4 cm groß ist. Ich persönlich fühle mich manchmal derart vereinnahmt und überwältigt, dass ich alles andere um mich herum ausblenden kann und in diese Welt abtauche.
Zwischen den kleinformatigen Zeichnungen aus den Anfängen mischen sich Szenen, welche die Künstlerin im Laufe ihres Lebens an den unterschiedlichsten Orten festgehalten hat. Stillleben, Freunde,
Orte und Atmosphären. Aktmodelle in allen Stellungen und individuellen körperlichen Facetten. Es wird also nicht langweilig. Manche Mappen sind so voll, dass wir gemeinsam Platz machen müssen –
im Kopf und auf dem Tisch – um die Bilder durchsehen zu können.
Ob in München oder Salzburg, in Mexiko, Florida und Sankt Petersburg, egal wo und in welchem Lebensabschnitt sich die Künstlerin befunden hat, es haben immer Artefakte aus den unterschiedlichen
Erfahrungen und Eindrücken überlebt. Carla Chlebarov hat mit ihrer Arbeit einen Wegbegleiter gefunden, der sie nie verlässt.
Die Farben, die plötzlich auftauchen, wenn Carla umblättert und unerwartet eine Collage oder eine auf Baumwolle gemalte Vorlage für einen ihrer großen Wandteller erscheint, sprechen ihre eigene
Sprache. Farbe und Form, darin ist die Künstlerin Meisterin ihres Fachs. Ob verdichtet durch körperlichen Einsatz, wie bei den Tanz–Bildern, bei denen Carla die Farbe regelrecht in das Papier
gestampft hat, oder lasierend, wenn Farbschichten übereinander eine Symbiose eingehen, ohne sich in ihrer Reinheit zu verwässern, dann ist ein künstlerischer Vorgang in Gang gesetzt worden, der
keine Kompromisse zulässt und ein Werk hinterlässt, das die Sprache der Künstlerin spricht.
Wenn das Bedürfnis sich auszudrücken immer stärker wird, entsteht Druck. Den kanalisiert Carla Chlebarov unter anderem in die Herstellung von Radierungen und Monotypien. Diese Technik braucht den
Druck, um sich auf den wunderbar haptischen Papieren zu verewigen. So entstanden und entstehen immer noch Auflagen, bei denen es schwerfällt sich für ein Exemplar zu entscheiden.
Natürlich war es nicht möglich das ganze bisherige Schaffenswerk von Carla Chlebarov zu sichten – von den Leinwänden gar nicht erst zu sprechen. Nachdem wir uns für einige Werke aus den
Zeichenmappen entschieden haben, wendeten wir uns den großformatigen Papierrollen zu. Der Fokus für die oben genannte Ausstellung hatte sich schon andeutungsweise auf ältere Arbeiten mit einem
hohen Schwarzanteil herauskristallisiert. Wie schon in dem Ausstellungstitel beschrieben, wollten wir von der schillernden farbenfrohen Oberfläche aus abtauchen, in die Untiefen der Kunst. Denn
wenn ein Kunstwerk geschaffen wird, das alles offenlegt und den Betrachter schonungslos die menschlichen Gefühle und Kräfte spüren lässt, hat man es mit wahrer Kunst zu tun. Und ja, genau das
wird offensichtlich, sobald eine Papierrolle, die durch Carla Chlevarovs Hände ging, ihr Innerstes freigibt. Aber was helfen all die Worte. Das muss man gesehen haben!
Am Ende eines jeden Besuchs im Atelier von Carla Chlebarov habe ich die Bilder und die Geschichten dazu nochmals vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Ich habe mich gefragt, wie ich all
diesen Kunstwerken in nur einer Ausstellung gerecht werden kann. Aber vielleicht geht es gar nicht darum, alles auf einmal zu wollen, sondern sich die Zeit zu nehmen, über viele Jahre hinweg
immer wieder Neues zu entdecken. Ich freue mich auf jeden Fall auf all das, was ich noch nicht gesehen habe, und darauf, Bekanntes zu einem anderen Zeitpunkt mit anderen Augen zu sehen. Denn
eines weiß ich bestimmt: In der Kunst von Carla Chlebarov gibt es noch viel zu entdecken.
Johanna Knöpfle 2022, anläßlich des Katalogs "1990-2022 UNPUBLISHED"